Im Gefängnis fand Gustav Landauer Abstand zur Arbeiterschaft. Nach der Gefängnisentlassung ging Landauer nicht nach Berlin, sondern in die Schweiz. Dort hielt er sich bis zum 5.1.1895 auf. Das Erscheinen der Zeitschrift "Der Sozialist" - Organ der Revolutionäre" wurde Anfang 1895 eingestellt. In dieser letzten Ausgabe erschien der wichtige Aufsatz "Die Demagogen der Revolutionszeit" von Gustav Landauer. Der Versuch, in der Schweiz eine abgesicherte Existenz aufzubauen scheiterte, und so finden wir Landauer wieder in Berlin. Der Aufsatz vom Januar zeigt das nicht mehr nur tagespolitische Fragen wichtig wurden. Nicht eine anarchistische Arbeiterschaft, die mit ihren Gewerkschaftsorgnisationen den freiheitlichen Sozialismus verwirklichen könnte, wurde berücksichtigt. Vielmehr wurde die Gegenwart aus der Perspektive geschichtlicher Befreiungsbewegungen wahrgenommen. Der "aufrührerische Bauer", sowie die Hussiten wurden als revolutionäre Kräfte einer geschichtlichen Volksbewegung verstanden. Diese Kräfte konnten sich aber nicht gegen die weltliche Obrigkeit durchsetzen. Die Humanisten und besonders Martin Luther verhinderten die Befreiung des deutschen Volkes von der Obrigkeit. Mit Luther und dem Luthertum wurde zwar die religiöse Befreiung des deutschen Volkes von Rom betrieben, diese Befreiung führte aber nicht zum Aufbau einer freiheitlichen Gesellschaft, sondern zur weltlichen Knechtschaft. Die Revolution der deutschen Bauern wurde mit den Kirchenglauben verhindert. Obwohl diese deutsche Revolution in den Anfängen stecken blieb zieht Gustav Landauer eine positive Parallele zur Arbeiterbewegung. Freiheitsbewegungen werden von einem revolutionären Geist getragen, der die gesellschaftliche Freiheit leidenschaftlich erkämpfen will. Den revolutionären Kräften sei die jeweilige Gegenwart eine unerträgliche. Mit den gegebenen Verhältnissen können sie sich nicht arrangieren. Landauer konkretisierte seinen Kulturoptimismus: mit dem Demagogenaufsatz sind drei grundlegende Faktoren ganzheitlichen Welterlebens vorhanden;
1. Das vom gegenwärtigen Aberglauben befreite dogmenfreie Denken. Dies ist der anarchistische Faktor.
2. Die mit diesem anarchistischen Denken zu verwirklichende freiheitliche Gesellschaft. Dies ist der sozialistische Faktor.
3. Der ewig "neue Geist". Dies ist der geistige Faktor des anarchistischen Sozialismus.
Die anarchistische Haltung wurde bereits mit den Revolutionsroman "Der Todesprediger" gezeigt. Dieser Anarchismus, der sich mit dem leidenschaftlichen Befreiungswillen von einer ekelerregenden bürgerlichen Gegenwart literatisch manifestierte, verblieb im Roman ein negativer. Dort wurde mit dem Kapitel "Utopien", der in Berlin geschrieben wurde, ein möglicher Ausweg angedeutet. Landauers politisch aktive Berliner Zeit brachte dann die notwendige Ergänzung zum literarischen Anarchismus. Mit den "Unabhängigen" erhoffte Landauer seinen Kulturoptimismus politisch zu verwirklichen. Die leidenschaftliche Gegenwartskritik, die unstillbare Sehnsucht nach einer libertären Gesellschaft ist ein wichtiger Faktor, der aber nicht ausreicht um die Revolution voranzutreiben! Der anarchistische Sozialismus beziehe seine eigentliche Kraft aus dem ewig neuen Geist. Bevor Landauer den Sozialismus als konkrete Alternative zum bürgerlichen Pessimismus kennenlernte, war er bereits Anarchist. Die geschichtliche Revolutionsperspektive, die den ewig neuen Geist als treibende Kraft der Revolution herausstellt, konkretisierte Gustav Landauer nachdem er den anarchistischen Sozialismus literarisch und politisch beschrieb.
Gustav Landauer ging von konkreten Zuständen des deutschen Kaiserreiches aus. Den Kaiser Wilhelm Staat nahm er aus der Sicht des vom Bürgertum entwurzelten Pessimisten wahr, der in der Auseinandersetzung mit der deutschen Arbeiterschaft den freiheitlichen Sozialismus fand. Mit dem anarchistisch sozialistischen Standort fand er auch den "neuen Geist". Die überzeitlich, geschichtliche Perspektive müßte bei den gegenwärtigen Befreiungsbewegungen berücksichtigt werden. Der ewige Geist sei die notwendige kraftvolle Ergänzung jeder sozialen Veränderung der Gesellschaft. Gustav Landauer fand diese Ergänzung zum dogmenfreien Denken (Anarchismus) und zur Verwirklichung der libertären Gesellschaft (Sozialismus) nicht in seiner Literarischen, und auch nicht in seiner aktiv politischen Zeit. Im Gefängnis zu Sorau fand er diese geschichtliche Ergänzung. Dort, in der äußeren Bescheidenheit des Freiheitsentzuges, fand sein anarchistischer Sozialismus die geistige Ergänzung.
Ebenfalls am 5.1. erschien in der Zukunft der Aufsatz "Der Anarchismus in Deutschland". Den Anarchisten zeichnet seine Befreiung von den Dogmen seiner Zeit aus. Mit anarchistischem Denken finde die Aufklärung, sowie der Aufbau des freiheitlichen Sozialismus seine Verwirklichung. Die Arbeiterschaft könnte der Träger anarchistischen Denkens sein, deswegen ist der Anarchismus ein sozialistischer. Mit dem Aufbau eines vom verkehrten Denken und Handeln befreiten Sozialismus könne sofort begonnen werden. Da aber die Allgemeinheit dem dogmatischen Leben verfallen ist, sei die anarchistische Aufklärung notwendig. "Der Anarchismus hat keine andere Aufgabe als die; es zu erreichen das der Kampf des Menschen gegen den Menschen... aufhöre... das im Verbande der Menschengesellschaft jeder einzelne die Position einnehmen kann die er Kraft seiner natürlichen Anlage sich herzustellen vermag." Warum wollen nur wenige Menschen diesen Anarchismus? Die Allgemeinheit verbleibt in ihrer skeptischen Auffassung des Menschen, die Folge dogmatischen Denkens ist. Der Pessimismus verhindert den Aufbau des libertären Sozialismus. Damit die Allgemeinheit über ihren unwürdigen Zustand aufgeklärt wird, muß der Anarchismus "anspornen zur Neubelebung unserer ganzen gesellschaftlichen Organisation, zur Erhebung aus der Geistesträgheit, zu energischer Tat, um Schranken zu brechen und neuen Boden für neue Saat zubereiten“ ... „um die Wiedergeburt des Menschengeistes, um die Neuerzeugung des Menschenwillens und der produktiven Energie großer Gemeinschaften" willen. Der anarchistische Sozialist versteht sich als Prediger, der sich und andere aus der bürgerlich sozialdemokratischen Ordnung befreien will. Die Verwirklichung des freiheitlichen Sozialismus ist die Beendigung des bürgerlich sozialdemokratischen Zwangsstaates und der Unmündigkeit der Allgemeinheit. Diesen Aufsatz schrieb Landauer nicht für die Arbeiterschaft, sondern für das deutsche Bildungsbürgertum. Der anarchistische Sozialismus sei nicht nur Sache der Arbeiterschaft; auch das Bildungsbürgertum bedarf anarchistischer Aufklärung.
Am 26.01. erschien eine Rezension zu Mauthners Buch "Kraft". Der Roman zeigt das zwei Menschen ihr Glück auf dem Unglück eines anderen Menschen aufbauen könnten. Dieses Glücksverständnis widerspricht den allgemeinen Moralvorstellungen. Dagegen gestaltet die Dichtung Situationen, in denen die geltenden Moralvorstellungen aufgehoben sind. Vielleicht konnte Gustav Landauer in dieser Zeit, von dem Buch seines Freundes angeregt, den sechsten Teil der Novelle "Arnold Himmelheber" schreiben.
März 1895 gründete Gustav Landauer mit dem Arbeiter W. Wiese die erste Berliner Arbeiter - Konsumgenossenschaft "Befreiung". Mit genossenschaftlicher Arbeit sei soziales Arbeiten möglich, die Genossenschaften bringen die konkrete Alternative zur kapitalistischen Unterdrückung. Hier produziere der arbeitende Mensch mit seinem, und nicht mehr nach den bürgerlichen Interesse. Die Genossenschaften zeigt Gustav Landauer in der im Mai erschienenen Broschüre "Ein Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse". Wie wichtig ihm die genossenschaftliche Produktion für die Verwirklichung des anarchistischen Sozialismus war, dürfte klar sein.
Vom 15.5. bis 2.10 lebte Landauer wieder in der Schweiz. In Bregenz wollte er eine Zeitschrift gründen, dieses mißlang. Daraufhin plante Landauer den im Januar eingestellten "Sozialist" wieder herauszugeben. Mauthner, der um seinen Freund besorgt ist - er könne wieder mit dem Staat in Konflikt kommen - wird beruhigt. "Der Sozialist" soll einen "lehrhaften, sogenannten wissenschaftlichen, literarischen Charakter besitzen, (soll) auch mit einer speziellen Beilage versehen sein... Das Hauptblatt führt den Kampf für die Kultur der Zukunft und gegen die Unkultur der Gegenwart, das Beiblatt will die Leser an der Kultur der Gegenwart teilnehmen lassen." (Briefwechsel Landauer - Mauthner, Brief 10). Am 17.08 erschien der "Sozialist - Anarchistische Monatsschrift" mit Gustav Landauer als Redakteur. Dieser "zweite Sozialist" sicherte der Familie Landauer in dieser Zeit den Lebensunterhalt. Die Fortsetzung des "Sozialist" zeigt u. a. das Gustav Landauer nicht nur die deutsche Arbeiterschaft, die Bürgerlichen welchen die "sociale Frage" wichtig ist, vom dogmatischen Denken befreien wollte. Er zeigte dort nicht nur die marxistische Sozialdemokratie als Gegenspieler zur "Utopie". Auf die Militarisierung der deutschen Gesellschaft machte er aufmerksam, z. b. am 17. 08. mit den Artikel "Die Kriegsfeier". Bürgerlich journalistische Presse hetze das deutsche Volk gegen das französische Volk. Damit solle die deutsche Gesellschaft von ihrer revolutionären Sache abgehalten werden. "Wahrlich, wahrlich, die sind nicht meinesgleichen die Gott danken für einen Schlachtensieg!" Da die deutsche Allgemeinheit, also nicht nur die Arbeiterschaft, weiterhin in ihrer Unmündigkeit verharrt, erzielen die Bürgerlichen mit ihrer Demagogie auch Erfolge. Nicht das ganzheitliche Welterleben ist der Allgemeinheit wichtig, sondern ihre Dummheit und Trägheit die mit der dogmatischen Denkweise in Geltung steht. Die Kriegsverherrlichung ist eine Spielart der Bürgerlichen mit dem die unmündige Gesellschaft von ihrer Freiheit abgehalten wird.
Bis zum Ende des Jahres 1895 schrieb Gustav Landauer für den "Sozialist" viele Artikel. Der zum Staatssozialismus gewandelten Sozialdemokratie sei ihre Machterhaltung wichtiger geworden als die Revolution der Arbeiterschaft. Gegen dogmatisches Denken setzte Landauer nicht mehr nur seine bisherige Aufklärung, sondern zugleich eine Literatur, die jenseits jeglicher Dogmatik ihre Grundlage besitzt. Mit der am 17. 08. erschienenen "Litterarischen Beilage zum Sozialist" verwies Landauer auf die Macht einer lebendigen Kunst. "Die sozialistische Gesellschaft wird nicht von selbst dem Erdreich entsprießen", sie wird vom künstlerisch schaffenden Menschen gestaltet, "wenn der Geist der Massen schon reif dazu wäre." Lebendige Literatur gegen dogmatisches Denken; "so beginne denn die litterarische Beilage zum Sozialist... die Anmaßung der Dummheit und Unterdrückung zu stürzen!" In einem früheren Artikel, "Die Zukunft und die Kunst", vom Februar 1891 zeigte Landauer bereits das der Kunst eine eigenständige Entwicklung, unabhängig von den jeweiligen Zeitumständen nicht zukommt. Kunst wird immer von den jeweiligen gesellschaftlichen Zeitumständen mitgeprägt. Nicht nur der künstlerischen Weltgestaltung komme ein relativer Wert zu, sondern auch der Moral. Moralvorstellungen sind ebenfalls von den unterschiedlichen Zeitumständen geprägt. Davon unabhängig eine Moral zu postulieren widerspricht materialistischem Welterleben. Dieses wird in dem Aufsatz vom 24. 08. "Die moralische Weltordnung" gezeigt. Den Menschen als Teil der Natur kommt Moral zu, nicht aber kommt der Natur menschliche Moral zu. Nur die Gottgläubigen glauben eine Moral, die unabhängig vom menschlichen Streben da sei. Landauer argumentiert aber nicht nur gegen religiöse Moral. Auch "darwinistische Naturforscher" wurden kritisiert. Diese Forscher rechtfertigen die gesellschaftlichen Verhältnisse, indem sie sich nicht mehr auf religiös Geglaubtes, sondern auf materialistisch Erfahrungswissenschaftliches berufen. Die religiöse und pseudodarwinistische Verteidigung gegenwärtig gesellschaftlicher Verhältnisse ergebe sich aus dem dogmatischen Denken. Beide Annahmen beherrschen das Denken und Handeln der Allgemeinheit, dabei beruhen diese Annahmen lediglich auf begrifflich leeren Verallgemeinerungen. Gustav Landauer leugnet nicht die Moral. Er führt sie aber auf das gemeinsame menschliche Streben, sich gegen außermenschliche Naturkräfte zu behaupten, zurück. Landauer bleibt realistisch: "Freilich ist diese Brüderlichkeit immer wieder gesprengt wurden von den wilden Trieben der Herrschaftsbegierde und der Unterdrückungssucht... Nur einen Ausweg gibt es, um aus diesen erbärmlichen Zuständen herauszukommen: der blinden Natur die Herrschaft zu überlassen, Freiheit aber walten lassen in der Kultur und dem Menschengeschlecht."
Aber nicht nur die leeren Abstraktionen religiöser und naturwissenschaftlicher Moral wird dem anarchistischen Denken entgegengestellt. Gustav Landauer ergänzte den Moralaufsatz mit dem Artikel vom 31. 8. "Friedrich Engel und die materialistische Geschichtsauffassung." In früheren Artikeln wurde gezeigt, das die gesellschaftliche Sphäre keine endgültige, sondern vom Menschen veränderbare ist. Ihr komme ein relativer Wert zu. Bisher argumentierte Landauer u. a. gegen die sozialdarwinistische Absolutsetzung gesellschaftlicher Bereiche. Im Engelsaufsatz schrieb er gegen die Verabsolutuierung ökonomischer Verhältnisse. Mit Dogmen wird ganzheitliches Weltgestalten verhindert, wird die "Bedeutung der geistigen Tradition und der überwiegenden Persönlichkeiten außerordentlich unterschätzt." Dagegen kenne anarchistisches Leben das ganzheitliche Sein, das der menschliche Wille, sowie das menschliche Fühlen zusammengehörig mit dem menschlichen Wissen ist. Mit dieser Identität kenne der Mensch gesellschaftliche Entwicklungen nicht in einer angeblichen Objektivität, welche die gesellschaftliche Gestaltungskraft des menschlichen Willens vermeint ausschalten zu können, sondern im Gegenteil wird mit anarchistischer Lebensweise die Welt mit solidarischem Wollen gestaltet. Das Ziel dogmenfreien Denkens und Handelns ist "die Freiheit des Einzelmenschen auf dem Grunde der wirtschaftlichen Solidarität." Anarchie ist kein fertiges, erstarrtes Gedankensystem, - wie das systematisch dogmatische Denken und Handeln - : "die Anarchie ist das Leben des Menschen, die dem Joch entronnen sind."
Diese anarchistische Denkweise und der freiheitliche Sozialismus, der sich von einer kommunistischen Planwirtschaft - welche eine neue "Arbeitsmoral" schafft - unterscheidet, sind zusammengehörig. Dieses zeigt Landauer mit den Aufsatz "Anarchismus - Sozialismus", der am 7.9.1895 im "Sozialist" erschien. Die Entlarvung religiöser Moral, pseudowissenschaftlichen Wissens, sowie die Kritik an verabsolutierten ökonomischen Verhältnissen war nicht nur einen lebendigen Kunstverständnis verpflichtet. Der vom dogmatischen Denken befreite Mensch könne den auf Dogmen gebauten Staat als der zu verwirklichenden libertären Gesellschaft entgegenstehendes kennen. Wird den Arbeitern die genossenschaftliche Produktion als Alternative zum Staat bewußt, könnten sie auch die Gegenwart dogmenfrei gestalten. Für die genossenschaftliche Perspektive warb Landauer. Damit zielte er nicht auf die Vereinzelung des verabsolutierten Individiuums, sondern auf gemeinsames, solidarisches Wirtschaften und Gestalten. Gustav Landauers genossenschaftlicher Befreiungssozialismus berücksichtigt nicht nur die zu überwindenen bürgerlichen und sozialdemokratischen Verhältnisse. Auch der Dogmatismus derjenigen welche die ekelerregende Gegenwart sozialistisch - planwirtschaftlich, und anarchistisch einseitig individuell überwinden wollten, widmetete Landauer seine Aufmerksamkeit. Gegen den verabsolutierten Anarchismus, z. b. dem "Ich" Max Stirners, der sich auf Kosten der Solidarität verwirklichen will, schreibt Landauer: "verhelfen wir den Teil unseres Ichs, das mit Mut und Feuer sich für das Große ins Zeug legt, fürs Unvergängliche kämpft zum Siege! Nicht der Vereinzelung bedarf es jetzt, sondern des gemeinsamen Ringens nach der Zukunft, nicht der Wortgespinste, sondern des Streitens gegen das Gespenst der Not und der Ausbeutung und der Knechtung!" ("Unsere nächste Aufgabe, 21.09.1895). Solidarische Gemeinschaft kann nur vorhanden sein, wenn das Individium nicht nur sein egoistisches Ich, sondern zugleich den gemeinschaftlichen Egoismus lebt. "Ich bin Ich", sowie "das altindische Wort": >Tat twan asi<, gehören zusammen. "Ich bin du - wir kommen vom Leid und wollen zum Glück! Das ist, meine ich, jetzt unsere nächste Aufgabe, fest dem Feinde ins Auge sehen, im Lager des Großen und Hohen stehen, im treuen Verein mit dem Freunde gehen." Mit einen weiteren Zitat aus dem Aufsatz "Herr Auer und die Sedanfeier", der ebenfalls im "Sozialist" erschien, ergänzen wir: "rastlos wollen wir mit den Waffen der Aufklärung und unserer Agitation den Nationalstaat wie jede Zwangsordnung bekämpfen!"
Gegen dogmatisches Denken und Handeln, dem verabsolutierten Individualismus, der das Solidarische im Menschen zerstört, werden auch Sokrates, Giodarno Bruno und Friedrich Nietzsche (!) angeführt. "Das größte, was noch in der Menschenwelt geschaffen wurden ist, war gegen das Interesse des Erdenkloßes und Menschentieres im Individium." ("Jeder für sich?", Sozialist vom 12. 10.) Das Solidarische manifestiert sich mit den großen Liebenden, Denkenden, Kämpfenden. Ihr Leben zeugt vom ganzheitlichen Welterleben und Weltgestalten. Die vom Aberglauben befreite wirtschaftliche und künstlerische Gemeinschaft kann sich gegen den verabsolutierten Egoismus, und von deren eingerichteten gesellschaftlichen Verhältnisse behaupten: "wir wollen die neue Gemeinschaft dadurch aufbauen, daß wir uns absondern von der herrschenden Klasse und unsere Produktion unseren eignen Bedarf zur Verfügung stellen." ("Alles oder Nichts!", Soziast vom 12.10.1895).
Die Konzeption des "Ich", mit der egoistisch - individualistisches Leben in seinem unzertrennlichen Zusammenhang mit dem egoistisch - solidarischen steht, ist wichtig. Damit ereichte Landauers Denken, das wir seit dem frühen Religionsaufsatz versucht haben herauszuarbeiten, einen weiteren Abschluß. Warum? Die "Ich" - Konzeption berücksichtigt sowohl den gegenwärtigen, im Dogma gefangenden Menschen, wie auch den anarchistisch sozialistischen Menschen. Den "Übermenschen", dem sein egoistisch individuelles "Ich" im egoistisch solidarischen "Ich" aufgeht, und damit nicht mehr im Dogma gefangen bleibt, kannte Landauer als konkrete Perspektive zur ekelerregenden Wilheminischen Kaiserzeit. Diese Perspektive konnte nicht den Staatssozialisten, den Bürgerlichen und auch nicht den einseitigen anarchistischen Bestrebungen wichtig werden. Die Befreiung von dogmatischer Denk- und Glaubensweise, die um der Verwirklichung des libertären Sozialismus wegen angestrebt wurde, konnte nur den wenigen wichtig werden die das bürgerliche und sozialdemokratische Klassenverständnis ablehnten. Eine Annäherung ergab sich zum undogmatischen Christenverständnis, des vom Militaristen zum Christlichen Pazifisten gewandelten Moritz von Egidy. Egidy unterschied "die Religion", welche von der Allmacht Gottes geschaffen sei von jenen Vorstellungen die der einzelne Mensch sich von der Allmacht verschafft. Auch Christus offenbare nicht die Schöpfung Gottes, sondern nur sein Vorgestelltes. Mit seinen Vorstellungen strebe der Mensch zur Vollkommenheit. Dieses Streben sei "Religiöses Christentum." Egidy bezeichnete sich als Transzendentalist. Nach diesem komme dem Drang zur Vollkommenheit eine besondere geistige Wesenheit, die sich vom materialistischen unterscheide, zu. Religion wird als Band, mit welchen der materialistische Mensch mit dem Geist Gottes unzertrennlich verbunden sei, verstanden. Moritz von Egidys "Bewußtseins - Religion" schließt den Glauben an eine Weltordnung ein, die sich unabänderlich zu höherer Vernunft entwickele. Egidy grenzte sich von jenen ab, welche die Welt materialistisch, d. h. ohne göttlichen Einfluss entwickeln lassen. Transzendentale Religion unterscheide sich grundsätzlich von den Darwinisten, von immanenter Religion, sowie vom Pantheismus. Der göttliche Einfluß auf das Weltgeschehen war Egidy wichtig, dieser könne sich mit dem undogmatischen Christentum vernunftmäßig entwickeln. Das menschliche Erkenntnisvermögen reiche aber nicht aus, um den göttlichen Einfluß auf das Weltgeschehen zu erkennen. Gegen anders Gläubige, und anders Denkende sei die transzendentale "Bewußtseins - Religion" tolerant. In einem Aufsatz seiner Zeitschrift "Versöhnung" versuchte Moritz von Egidy einen Brückenschlag zum "Sozialist". Beide Zeitungen heben sich von den einseitigen Tageszeitungen ab, die evangelische Freiheit und der Anarchismus Landauers strebten dasselbe an: Befreit von der gegenwärtigen Ordnung gemeinschaftlich, solidarisch zu leben. Egidy legte Wert auf die Feststellung, das dieses Streben nicht mit dem Begriff Anarchismus - weil dieser mit Gewalt verbunden verstanden wird - assoziiert werden soll. Der Anarchist stehe aber "dem Herrn Jesu näher, als seine christlichen Widersacher."
Gustav Landauer lobte Egidys
Toleranzverständnis, bedauerte aber das die religiösen Begrifflichkeit,
wenn auch völlig verändert, weiterhin ausgelegt werde. Egidys
Annahme einer unveränderlichen Höherentwicklung des Menschen
sei darauf zurückzuführen. Landauer betont das die Begriffe,
auch die der Religion, auf die tierischen Sinne des Menschen zurückzuführen
seien. Die "menschlichen Begriffe sind relative Wahrheiten für Menschen,
damit komme der Mensch nicht zu dem was "hinter der Erscheinungswelt steht."
Deswegen lehne er, Landauer, nicht nur einen außerweltlichen Gott
ab, sondern auch den Pantheismus, der die Materie mit einen angeblichen
Gott identifiziert. Egidy solle sich doch von seiner religiösen Begrifflichkeit
lösen. Dann könnte Egidy das ganzheitlich soziale Welterleben,
das mit der "Ich" - Konzeption vorhanden sei, und für das Landauer
kämpfe, auch als seine Sache kennen. Bereits 1891, mit dem Aufsatz
"Die religiöse Erziehung" bestritt Gustav Landauer, mit den Hinweis
auf Spinoza, ein pantheistisches Verständnis der Welt. Den metaphysischen
Teil der Ethik Spinozas bestritt Landauer; nicht aber dessen Affektenlehre.
Das möchten wir später gründlich abhandeln. Auch einen außerirdischen
Gott, sei dieser nun zu erkennen oder nicht, wurde von Landauer bestritten.
Der außerirdische Gott, der den Menschen seinen Halt in der veränderlichen
materialistischen Welt verbürgen könnte, wurde Landauer nicht
wichtig. Die materialistische Erscheinungswelt, und die Stellung des Menschen
müsse sozial naturwissenschaftlich und sozial künstlerisch gelebt
werden. Der anarchistische Sozialismus lasse sich mit den allgemeinen Christenglauben
nicht vereinbaren. So können wir feststellen, das Gustav Landauers
anarchistischer Sozialismus mit dem allgemeinen religiösen Glauben
unvereinbar ist.