Vom Kulturoptimismus zum Revolutionsroman
Herbst 1885 beschloß Gustav Landauer neuere Philologie zu studieren. Er wechselte 1886 vom Karlsruher Realgymnasium an das Großherzogliche Gymnasium. Juli 1888 bestand er, achtzehnjährig, die Reifeprüfung mit „ziemlich gut“. Anschließend werden in Heidelberg die Fächer Germanistik und theoretische Nationalökonomie belegt. In Heidelberg trat er dem Neuphilologischen Verein bei. Dort hielt Landauer mehrere Referate, z. b. am 18.12.1888 über „Die Religiöse Jugenderziehung“. Aus dieser Zeit könnte der Aufsatz „Die Religiöse Erziehung“, der in der Zeitschrift „Die neue Rundschau“ Februar 1891 veröffentlicht wurde, stammen. Dieser Text soll hier berücksichtigt werden, um zu zeigen das Gustav Landauer um 1890 Kulturoptimist war.
Der Kulturoptimismus Landauers kann nur Realität werden, wenn auf verkehrte Lehren verzichtet wird. Abgelehnt wurde der Darwinismus, wenn dieser das Geistige nicht berücksichtigt, der Pantheismus Spinozas, wie auch das Entwicklungsdenken Hegels, sowie die christliche Religion. Diese Lehren verfälschen die Entwicklung materialistisch - geistigen Lebens. „Das Begreifen der Ursache unserer Erscheinungswelt“ sei nicht mit christlicher Religion, und auch nicht mit verkehrtem Denken zu leisten. Materialistisches Leben muß vielmehr naturwissenschaftlich geklärt werden. Der Mensch könne die Welt der Dinge mit Hilfe der Mathematik kennen, er müsse „alles Qualitative in Quantitatives verwandeln“. Die Befreiung vom verabsolutiert sinnlichen Denken gewährleiste erst die Weiterentwicklung des Menschen. Mit Hilfe der Mathematik schaffe sich der Mensch die Basis für seine geistige Entfaltung. Die „sociale Frage“ wird erst dann gelöst sein, wenn mit mathematischer Wissenschaft, rationaler Landwirtschaft und Großbetrieben der Mensch in die Lage gekommen ist seine Waren zu produzieren. Die industrielle Produktionsweise, die mit dem Fortschreiten der „Maschinentechnik“, und der Chemie... erfolgt, wird den Klassenunterschied - der „heute noch die Schande der Gebildeten“ (!) ist, beseitigen. Dann bestehen nur noch Unterschiede in „geistigen und ethischen Anlagen“. Der Mensch in seiner gelebten Individualität sei dann Realität geworden. Damit naturwissenschaftliche Weltgestaltung, und der damit verbundene technische Fortschritt für alle Menschen Realität wird - um sich geistig entfalten zu können - müßten die wenigen „fortgeschrittenen Geister“ dafür sorgen das die heranwachsenden Menschen die wahre religiöse Erziehung bekommen. Die neue Generation dürfe nicht mehr mit den alten Werten, aber auch nicht in religiöser Gleichgültigkeit erzogen werden. Die heute Lebenden könnten dazu beitragen das die „sociale Frage“ in der Zukunft gelöst sein wird. Damit der „Übermensch“ Wirklichkeit wird, müßte der gegenwärtige Mensch von der verkehrten religiösen, und philosophischen Tradition, mit Hilfe mathematischer Wissenschaft, sich befreien. Nietzsche ist derjenige welcher dem Streben Ausdruck verleiht, das der gegenwärtige Mensch - der die verkehrten Werte lebt und eben deswegen die Welt nicht wissenschaftlich rational gestaltet - überwindbar sei.
Gustav Landauer war keine zwanzig Jahre jung als er diesen Kulturoptimismus beschrieb. Ab Oktober 1889 finden wir ihn in Berlin, dort studierte er Germanistik und Philosophie. Landauer entdeckte das literarische Berlin, und findet in Fritz Mauthner einen Förderer und späteren Freund. Fritz Mauthner verschaffte Gustav Landauer die Möglichkeit in seinem Literaturmagazin „Deutschland“ zu schreiben. Bereits Januar 1890 wurde dort der Artikel „Über epische und dramatische Kunst“ veröffentlicht. Kunst soll nicht egoistisches Alltagsleben verherrlichen, sondern müsse das menschliche Leben ideal darstellen. Landauer erklärte die von der Tradition geschaffene Kunst zur Scheinwelt; in ihr wird nicht das Ideal des „Übermenschen“ berücksichtigt. Das Drama sei die bevorzugte Kunstform, mit welcher der gegenwärtig handelnde Mensch, unter besonderer Berücksichtigung derjenigen Frage „die in allen Ständen ohne Unterschied sich mehr und mehr vordrängt: die sociale Frage“, dargestellt werden müßte. Das soziale Drama wurde Gustav Landauer ein Mittel, um sich den „Übermenschen“, zu nähern. „Übermensch“ ist bei Landauer der zukünftige Mensch, welcher von verkehrten Werten, die ihn heute noch vereinnahmen, befreit ist. Einige Monate später, im April 1890, wird er sein Kunstverständnis mit dem Aufsatz „Das neue soziale Drama“ konkretisieren.
Der Aufsatz „Die religiöse Erziehung“, sowie die beiden Artikel zur Kunst, stellen, so meine ich, Landauers frühen Kulturoptimismus dar. Mathematische Wissenschaft, und soziales Drama wurden ihm Mittel, mit denen der gegenwärtige Mensch von verkehrten Weltverständnissen sich befreien könnte. Mit dieser Befreiung - die eine naturwissenschaftliche und künstlerische ist - könne der heutige Mensch sich dem idealen Menschen nähern. So rückt die vom Aberglauben befreite Zukunft dem heutigen Menschen näher! Von Friedrich Nietzsche ist hier viel zu spüren, aber von einem Nietzsche der Licht am Horizont sieht. Und damit ging Landauer über Nietzsche hinaus. Friedrich Nietzsche ist doch eigentlich Kulturpessimist, er zerstört zwar Werte abendländischen Kultur, setzt aber an deren Stelle keine tragenden Werte. Seine „Umwertung der Werte“ kennt nicht das positive Befreiungsideal: Das mit Hilfe rationaler Produktion, sowie sozialen Drama der vom Aberglauben befreite Mensch, und eine freiheitliche Gesellschaft zu verwirklichen sei. In dieser Frühphase Landauers ist vom Pessimismus eines Schopenhauers nichts zu vernehmen.
Außer diesen drei veröffentlichten Aufsätzen schrieb er zwei Erzählungen, „Geschwister“ und „Ein Knabenleben“, sowie eine Rezension. Herbst 1890 ging Landauer von Berlin nach Straßburg. Im November begann er seinen Roman „Der Todesprediger“. Landauer entschloß sich endgültig Schriftsteller zu werden. Februar 1891 schrieb er den, im Januar 1892 veröffentlichten Artikel „Die Zukunft und die Kunst“. Dort wandte er sich gegen die weitverbreitete Kunstauffassung. Allgemein wird angenommen, das Kunst mit ihren großen Gestaltern eine naturnotwendige, von dem Bewußtsein der Allgemeinheit losgelöste, Entwicklung darstelle. Der Kunst kommt aber eine „selbsteigene Entwicklung“ gar nicht zu. Kunst - und Literaturgeschichten, die Hegel verpflichtet waren, wurden abgelehnt. Den Akademischen, und den davon geprägten Auffassungen des Publikums wurde ein Kulturverständnis entgegengestellt das sich vom literarischen Entwicklungsdenken befreien konnte. Landauers Kunstverständnis wurde von einen offenen Zukunftshorizont geprägt, wo der „Übermensch“, der vom gegenwärtigem Aberglauben freie Mensch, seine materialistische Freiheit geistig lebt. Diese Kunstauffassung kann nur der „aufstrebenden Jugend“ wichtig werden. Ihnen war Kunst nicht mehr eine Angelegenheit der Ästhetik, der Gestaltung „gegenwärtigen Lebens und Treibens zum befriedigenden Genuß, sondern sie streben nach der Zukunft, deren hohes, leuchtendes Bild sie in sich tragen“. Für das Geisterfüllte Leben kämpfen diese Wenigen. „Propheten brauchen wir, die die Jetztzeit geißeln und die Zukunft künden“. Gustav Landauer setzte sich vom gängigen Kunstverständnis ab, und das so radikal das er, wegen dem idealen Zukunftsmenschen, mit der literarischen Gegenwart brach. Wie bereits in seinem Aufsatz „Die religiöse Erziehung“, wo er vom christlichen Glauben, sowie dem metaphysischen Denken Spinozas und Hegels Abschied nahm, um mathematisches Vernunftwissen, und die damit verbundene Lösung der „socialen Frage“ voranzutreiben.
April 1891 finden wir Gustav Landauer wieder in Berlin. Hier versuchte er sein soziales Wissenschafts- und Kunstverständnis zu verwirklichen. Er fand eine Möglichkeit im politischen Geschehen. Am 1. Mai hörte er Wilhelm Liebknecht, dessen Rede ihn ergriff. „Selten habe ich mich so erhaben gefühlt“. Außerdem trat Landauer der „Freien Volksbühne“ bei. Diese wurde im Vorjahr gegründet um der Arbeiterschaft literarisches, und naturwissenschaftliches Wissen zu vermitteln. Hier sehen wir das Gustav Landauer die Literatur mit der Politischen Ebene ergänzte. Auch die linke Opposition der Sozialdemokratie, die sogenannten „Jungen“, welche den Parlamentarismus und die Vereinnahmung der Arbeiterschaft von Seiten der Parteiführer bekämpften, wurden ihm wichtig. Am 28.10. schrieb er seinen Freund Blum-Neff: „Ich bin der Ansicht... das die Sozialdemokratie mehr zu sein hat als eine politische Partei im gewöhnlichen Sinne“. Das Verhältnis dieser Opposition zur Parteiführung gestaltete Gustav Landauer literarisch im Revolutionsroman „Der Todesprediger“. Die literarische Bewältigung seiner nicht aktiven politischen Berliner Zeit ist für Landauers weitere Entwicklung enorm wichtig. Mit dem Roman legte er die Grundlagen der nächsten Jahre, und diese standen auch im Zeichen der Politik.
Am 29.1.1892 erschien ein weiterer Artikel zur Kunst. Literatur darf keine akademische Angelegenheit sein, darf auch nicht im Realismus aufgehen, sondern muß im Lichte der „socialen Frage“ revolutionär verstanden werden. In Deutschland war Gerhard Hauptmann der Schriftsteller der mit einigen Dramen („Die Weber“, „Vor Sonnenaufgang“) die „sociale Frage“, wenn auch nicht revolutionär, wenigstens berücksichtigte. Hauptmann wandte sich aber immer mehr dem Realismus, und seinen Anspruch Gegenwart objektiv zu schildern zu. Anstatt Revolutionsliteratur zu gestalten, schaffe Hauptmann realistische Dramen. Ein „Theil des Publikums, das am weitesten vorn stand“ begann sich immer mehr vom literarischen Objektivitätsgestalten zu lösen. Mit Ibsen und Nietzsche, die mutig und frisch „auf das Faule in unseren gesellschaftlichen Einrichtungen“ hinwiesen, sei die leidenschaftliche Kritik vorhanden die dem Realismus völlig abgeht. „Kraft und Leidenschaft und Gegenwartshass und Zukunftsfreude sollten erweckt werden“, damit könnten die alten Werte der Religion, der Philosophie, der Literatur überwunden werden.
Gustav Landauer wandte sich von literarischer Kunst nicht völlig ab, sondern von jener Literatur welche die Gegenwart abergläubisch, d. h. nicht im Rahmen der „socialen Frage“ gestaltete. Da er keine Revolutionsliteratur in Deutschland vorfand, diese ihm aber wichtig war - auch um den eigenen Standpunkt zu klären - beschloß Landauer, im März 1892, diese Literatur zu schreiben! In Urach schrieb er dann den größten Teil des, im November 1890 begonnenen Romans „Der Todesprediger“. Mit seinem ergänzten Revolutionsroman im Gepäck - der sechste Abschnitt „Utopien“ wurde nicht in Urach geschrieben - und den festen Willen in Berlin seinen Kulturoptimismus politisch zu verwirklichen traf er dort, am 25.07.1892, ein. Gustav Landauers Studentenzeit, sowie die frühe Literaten Zeit, die nicht politisch ausgerichtet war, waren damit beendet. Nun orientierte sich Gustav Landauer politisch. Bevor wir uns aber seiner frühen politischen Aktivität zuwenden muß vorher der Revolutionsroman, „Der Todesprediger", ausführlich betrachtet werden.
Gerhard Hauptmann ist der deutsche Literat, der wenigstens ansatzweise „die sociale Frage“ in seinen Dramen berücksichtigte. Da diese Frage aber bei Hauptmann keinen revolutionären Stellenwert einnimmt beschließt Landauer diese Frage in einen Roman gebührend zu berücksichtigen. Das was Hauptmann nicht bringt, müsse er, Gustav Landauer, vollbringen! „Der Todesprediger“ war Landauers revolutionäre Antwort auf die Literatenkaste, und den Verwaltern der Literaturtradition. Die Überwindung literarischen Ästhetentums, sowie die Überwindung derjenigen welche Friedrich Nietzsches leidenschaftliche Kritik gegen den Sozialismus ausspielten (F. Mehring, E. Bernstein), sollte zugunsten materialistisch - geistiger Entwicklung dargestellt werden. Literarisch sollte gezeigt werden: Die Befreiung des Individuums von freiheitsberaubenden Zuständen der Gegenwart. „Der Todesprediger“ wurde für Landauer eine Möglichkeit die gegenwärtigen Widerstände, welche der Verwirklichung des „Übermenschen“ entgegenstehen, literarisch auf zu zeigen. Diese Literatur berücksichtigt die politischen Verhältnisse im Lichte der „socialen Frage“.
Nun also zum Roman. In den Jahren „in denen Abgelebtes“ (christliche Religion, metaphysische Philosophie von Spinoza bis Hegel, Ästhetentum) „und Vorzeitiges“ (revolutionär leidenschaftliche Kritik der Gegenwart, Nietzsche, mathematische Wissenschaft, und Kunst im Lichte der „socialen Frage“) „nebeneinander wohnte, fiel das Leben des Menschen von dem ich im folgenden erzählen will“. Das Leben Karl Starkbloms, der Hauptfigur des Romans, wird im ersten Abschnitt von der Kindheit bis zum zweiundvierzigsten Lebensjahr beschrieben. Seine Eltern betrieben ein Schuhgeschäft, und er ist das zweite von sieben Kindern. Bis zum sechzehnten Lebensjahr laß er viele Bücher philosophischen, und religiösen Inhaltes. Eigentlich wollte er Philosophie studieren, entschied sich aber für Jura. Er verkehrte nur noch mit Fachgenossen, dort wurde ihm aber bewußt das „er mehr sei als der Durchschnitt seiner Umgebung“. Mehr als einmal ging ihm der Gedanke durch den Kopf: „Wartet nur! Ich bin noch der Alte! ... Wartet nur! Er ist noch nicht tot, der Prediger in der Wüste!“. Er ging zum Militär, anschließend wurde Karl Amtsrichter, und gründete eine Familie. Seine Frau und Kinder starben, und er war ganz allein auf der Welt. Karl zweifelte am Sinn des Lebens. Als auch noch sein Bruder stirbt erbt er von ihm eine hohe Geldsumme. Daraufhin beschloß er seinen Abschied von der Juristerei, um „Sich selber ausleben zu können“. An seine Jugend wolle er wieder anknüpfen, er machte die Erfahrung das sein äußeres Leben ein trostloses geworden war. Doch er fühlte Kraft in sich: „In sich selbst wollte er sich versenken, auf sich selbst besinnen“. Karl kaufte ein Haus, dort richtete er eine große Bibliothek ein. Bald machte er die Erfahrung, das es besser sei mit Gedanken als mit Büchern zu leben. Noch besser sei aber „Erleben als Denken“. Und er machte sich klar: „Er würde die Erde nie mehr bevölkern helfen, das wußte er, so mußte er dann der Menschheit in anderer Weise dienen... er mußte denken, leben und wirken. Vorbild wollte er sein, Prophet... Erlöser - War er denn noch jung genug? Ja, er glaubte an sich.“ Mit diesen Gedanken wurde ihm mehr und mehr sein Ekel an der bürgerlichen Welt bewußt. Da bekam er von seinem Jugendfreund, der Fabrikant geworden war, und mit dem er damals philosophierte, Besuch. Im Gespräch wurde ihm schnell klar das die Interessen dieses Vertreters der bürgerlichen Welt mit seiner Freiheitssehnsucht nicht zusammen passe. Hier ernster Lebensberuf, der im bürgerlichen Leben aufging, und Geistiges ablehnte, dort pessimistischer Ekel am kapitalistischen bürgerlichen Streben. Karl Starkblom brauchte anderen Umgang als mit den Werten eines verfallenden Bürgertums, „ihm ekelten diese Menschen, und ihm ekelten seine Gedanken“.
Dieser erste Romanabschnitt ist stark biographisch. Gustav Landauer schildert hier seinen beginnenden Abschied von der bürgerlichen Welt. Schopenhauer ist ihm „ein wildes Tier... das nicht durfte, wie es wollte“. Bevor Landauer Schopenhauer aber als Philosoph des Bürgertums wußte, mußte er eine Erfahrung machen, die sich bereits mit seinen Aufsätzen zur Kunst herauskristallisierte. Nicht Gleichgültigkeit, und auch nicht Verteidigung der bestehenden Verhältnisse, sondern leidenschaftliche Kritik der gegenwärtigen Verhältnisse ist ihm wichtig. Nicht der Kritik, sondern um den vom gegenwärtigen Aberglauben befreiten Menschen willen. Nietzsche war dem jungen Landauer näher als Schopenhauer. Nietzsches Menschenbild sei aber von der Vergangenheit geprägt. Nicht ein griechisches Ideal, sondern der vom Aberglauben befreite Mensch, der die Gegenwart im Lichte der „socialen Frage“ gestaltet, wurde Landauer wichtig. Dieses stellte Landauer in einen Text dar, der erst 1989 von Hanna Delf veröffentlicht wurde. Die „sociale Frage“, und die leidenschaftliche Gegenwartskritik umfassen die Alternative zur bestehenden bürgerlichen Ordnung. Die Berücksichtigung dieser Frage in Literatur und mathematischer Wissenschaft entspricht nicht den bürgerlichen Interessen, die den Staat verteidigen.
Seit 1891 gehörte Gustav Landauer zu den „Friedrichshagern“, diese berücksichtigten das soziale Element in der Kunst. Aber auch diese Gemeinschaft war ihm nicht revolutionär genug. Soziale Fragen müßten revolutionär in die Tagespolitik eingebracht werden. Februar 1892 trat Landauer den „Unabhängigen“ bei. Hier fand er die Möglichkeit des politischen Befreiungskampfes, der seinen Kulturoptimismus und die leidenschaftliche Gegenwartskritik verwirklichen könnte. In der Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratischen Partei bildete sich Landauers Verständnis der Tagespolitik. Und dieses Thema wurde literarisch, im zweiten Teil des Romans, gestaltet.
Angeekelt von der bürgerlichen Welt, und ohne konkrete Perspektive für die Gegenwart und Zukunft - aber mit revolutionären Befreiungswillen - läßt Landauer seine Romanfigur Karl Starkblom mit der aufstrebenden Sozialdemokratie konfrontieren. Das der Sozialismus nur entstehen konnte, weil aufstrebendes Bürgertum - nach seiner Befreiung vom Adel - an der „socialen Frage“ scheiterte, sagt Landauer im zweiten Teil. Mit dem bürgerlichen Versagen konnte die Kluft entstehen, aus der die internationale Sozialdemokratie aufsteigen konnte. Der von der bürgerlichen Welt entfremdete Starkblom ist einer der wenigen Bürgerlichen dem das Soziale wichtig wurde. Mit dem Sozialismus sei der Hoffnungsträger vorhanden, mit dem das arbeitende Volk seine Befreiung anstreben könnte. Starkblom betrachtet die sozialistische Weltanschauung mit Zweifel. Karl ging in eine Wahlveranstaltung, wo er die bürgerlichen Phrasen hörte. Als ein Arbeiter sprach, wurde er hellhörig. Sind hier vielleicht die Menschen die ihm, den vom Bürgertum entfremdeten, eine Alternative bieten könnten? Soll er mit unterdrückten Arbeitern für die „Befreiung der Menschheit von der anarchistischen (!) Warenproduktion und... zur Herstellung einer wirklichen Menschheit und Menschlichkeit“ kämpfen? Mit dem Sozialismus des Volkes gegen seine bürgerliche Entfremdung, und der daraus erfolgten Perspektivlosigkeit?
Der Arbeiter sprach von der Sozialdemokratie, und das diese ein Herz für das Volk habe. Mit der Sozialdemokratie könnten die Arbeiter gemeinsam gegen die kapitalistische Ordnung kämpfen. „Die Menschen haben im wesentlichen die gleichen materiellen Bedürfnisse... Erst wollen wir satt werden und das Paradies der Menschheit erobern... dann wird die schöne Freiheit von selber dasein“. Wenn die Arbeiter mit der Sozialdemokratie die Klassengesetze aufgehoben haben, an deren Stelle das kommunistische Ideal gesetzt haben - die klassenlose Gesellschaft - wird die Freiheit der Menschheit ermöglicht. Obwohl Starkblom von der Rede des Arbeiters „angehoben“ wurde, ist er zugleich kritisch. Was die Arbeiterschaft erst erkämpfen will, kennt er bereits. Mit materialistischer Freiheit ist geistige Freiheit nicht zugleich vorhanden! „Diese Naiven, wenn sie alles das hätten, was er sich errungen und was ihn vom Glücke zu gefallen: Reichtum, Unabhängigkeit, Bildung, Wissen - sie wären elender als jetzt. Oder sie wären stumpfsinnige Tiere wie diese Bürgersleute welche liberal und konservativ - religiös wählen. Oder gab es ein drittes? ... Er konnte es nicht glauben. Ja, wenn er glauben könnte! An die Zukunft glauben... an einen Sinn ... ja das wäre schön!... Arbeiten für ein Ziel... aufklären, predigen... kämpfen? Mitstreiter suchen? Und finden? Genossen, Wo? Sozialdemokraten? Ja, ob das nicht am Ende die rechten Menschen für ihn wären?“ Und Landauer läßt Karl sagen: „Also ich beginne. Ich will versuchen. Die Sozialdemokratie, die muß ich kennen lernen. Am Ende werde ich selber einer“. Wenn er sich der Sozialdemokratie überläßt, wird er „Einrichtungen bekämpfen, und nicht mehr sich selber? Wissen und nicht ahnen?“
Karl Starkblom könnte mit dem Sozialismus seine Befreiung finden? Gegenwartsfreude, und Zukunftsdenken, und nicht mehr den Ekel an den bestehenden Verhältnissen, und den daraus erfolgten Pessimismus? Landauers Romanfigur bleibt skeptisch. Die Arbeiterschaft dagegen erwartet von der Sozialdemokratie die Erlösung von den Klassengegensätzen: Um sich bürgerlich einzurichten! Wie paßt dieses zusammen? Wie kann er mit denen zusammen gehen und kämpfen, welche das erstreben was er bereits als verkehrtes Leben kennt?! Eine Veranstaltung der Arbeiter werde er besuchen, und zwar in „ahnungsvoller Bereitschaft, sich in Etwas neues zu stürzen, mit dem ganzen leidenschaftlichen Feuer das sich in ihm die Zeit über angesammelt. Menschen zu finden, denen er sich anschliessen, die er leiten könnte. Genossen haben im Streit und im Ziel“. Karl beschließt die Arbeiterschaft vom Standpunkt seiner bürgerlichen Entfremdung aufzuklären!
Das Thema der besuchten Veranstaltung war: Wie stellt sich der Arbeiter zu den Wahlen? Der Redner machte klar, das jeglicher Parlamentarismus abzulehnen sei. Die Arbeiter könnten ihre Interessen selber in die Hand nehmen, politische Vertreter in Berlin werden nicht benötigt. Das Wahlrecht sei ein taktischer Trick mit dem die Arbeiter um den revolutionären Sozialismus gebracht werden sollen. Nur die revolutionäre Arbeiterschaft besitze eine Weltanschauung, die das Bürgertum und deren Einrichtungen überwinden könnte. Karl war beeindruckt, hier wurde an die Vernunft geglaubt. Hier wurde die „sociale Frage“ revolutionär behandelt. Starkblom mußte reden, er bekam das Wort und bekannte sich zum Sozialismus. Er äußerte seinen Wunsch: „Nehmen Sie mich auf in ihre Reihen. Unser Wille ist der selbe, die vernünftige Gestaltung des menschlichen Lebens!“ Er wurde herzlich aufgenommen, und wurde einer der eifrigsten Redner der Arbeiter. „So schien er ganz aufgegangen in seiner Tätigkeit; er schien zu wissen wofür er lebte oder vielmehr gar keine Zeit mehr zum Grübeln hatte“. Karl war vom bürgerlich Entfremdeten, der den Pessimismus betrieb, zum leidenschaftlichen Agitator der Arbeiterinteressen gewandelt! Seit Monaten reiste er durch Deutschland, auf einer Großveranstaltung hält er einen Vortrag: „Warum muß der Sozialismus siegen?“ Der erste Teil beschrieb die gegenwärtigen Verhältnisse. Der zweite Teil sollte die „sozialistische Gesellschaft als Ideal“ beschreiben. Als er damit beginnen wollte, wurde ihm plötzlich klar, das er hier verkehrtes, noch gar nicht gedachtes, redete. Karl wurde ohnmächtig. Danach zog er seinen Einsatz für die Arbeiterschaft zurück. Er schrieb eine kleine Flugschrift „Sendschreiben Karl Starkbloms an das Menschengeschlecht. Zugleich ein Absagebrief an den Sozialismus“.
Karl Starkblom/Gustav Landauer wußte bereits das der gegenwärtige Sozialismus, die Sozialdemokratie, nicht der wahrhaftige Weg zur Verwirklichung des „Übermenschen“ ist. Diese Einsicht läßt Karl wieder in seine alte Krankheit, den vom bürgerlichen Leben entfremdeten Gegenwartsekel, und Zukunftspessimismus zurückfallen. Arthur Schopenhauer ist ihm wieder näher als die leidenschaftliche Gegenwartskritik Nietzsches. Karl verspürt die „rasende Begier, meinen friedlichen Mitmenschen“, die wissend und/oder gläubig dogmatisch sich geben, mit seinem Pessimismus zu konfrontieren. Den von ihren Dogmen überzeugten Sozialisten sagt er: „Das der Sozialismus eine Sache mittelmäßiger und gewöhnlicher Naturen ist!“ Nur die wenigen, die ihn verstehen, will er „von der Genossenschaft der Genossen abziehen“.
Nicht in der gegenwärtigen Sozialdemokratie, und auch nicht in deren Opposition, den „Jungen“, findet Landauer den revolutionären Impuls der Befreiung. Was vermißte Gustav Landauer? Der revolutionären Arbeiterschaft könnte das naturwissenschaftliche, und künstlerische Verständnis, das er mit den frühen Artikeln zeigte, wichtig sein! Mathematische Vernunft, und sozialistische Kunst müßte für die revolutionäre Sache zum tragen kommen. Landauer kritisierte nicht nur die Naturwissenschaft und Literatur seiner Zeit, sondern auch die Partei und die Bewegungen die für sich in Anspruch nahme für das Volk ein zustehen. Naturwissenschaftliche Vernunft müßte sich in rationaler Warenproduktion erweisen die vom sozialistischen Geist getragen wird. Diese Vernunft, und die soziale Kunst könnten für die Überwindung der ekelerregenden bürgerlichen, und sozialdemokratischen Gegenwart gebührend berücksichtigt werden. Mit religiöser und philosophischer, wie auch mit politischer Dogmatik ist die Verwirklichung des „Übermenschen“ nicht möglich.
Landauer spricht in dem Roman nicht zu den Vielen, die in verkehrten Weltverständnissen beharren, ihm sind nur die wenigen Menschen wichtig, die z. b. bereits jüdisch - christliche Moral als den zu verwirklichenden „Übermenschen“ entgegenstehend kennen. Die wenigen, die bereits das dogmatische Denken und den Parlamentarismus der Sozialdemokratie als Verhinderung des erfüllten Lebens kennen, möchte er um sich sammeln. Solange diese wenigen nicht zusammenfinden, um ihre revolutionäre Sache zu betreiben, ist keine wirkliche Alternative zur bestehenden Ordnung vorhanden. Die Verwirklichung des zukünftigen Menschen, sowie der Aufbau einer sozialen Gesellschaft mit dem Ziel den bürgerlichen und geknechteten Arbeitern eine lebenswerte Perspektive zu ermöglichen, ist eine revolutionäre Sache. Bevor damit nicht angefangen wird bleibt der gegenwärtige Mensch den Machenschaften des Kapitals, und des Parlamentarismus ausgeliefert. Weil revolutionäre Arbeiterschaft, und sozialistisch Bürgerliche nicht zusammenfinden läßt Landauer seine Romanfigur den Tod predigen. „Er liegt mir am Herzen und von ihm muß ich noch erzählen. Seid ihr bereit? Ich will euch etwas er erzählen – vom Leben!“
Leben bedeutet nicht an leeren Abstraktionen der Religion oder an den Gesetzmäßigkeiten marxistischer Sozialdemokratie zu glauben und diesen Glauben als unfehlbar postulieren. Mit dogmatischen Glauben, und Denken lebt der Mensch nicht das vernünftige Leben. An die Arbeiter gerichtet läßt Landauer Karl sagen, das sie das Leben gar nicht kennen. Wie könnten die Arbeiter von der geistigen Öde wissen, welche mit der materialistischen Freiheit dem Bürgertum überkam. Die Arbeiterschaft müßte erst ihre materialistische Freiheit erkämpfen, um die geistige Leere zu kennen. „Früher kann ich nicht zu euch sprechen. Suchet das Leben, damit ihr es fliehen könnt“. Und den „sozialdemokratischen Lehrer und Führer“, der wissen müßte das materialistische Freiheit keine geistige Freiheit verbürgt, sagt er: Wenn sie nicht armselige Seelen sind die auf Kosten der Arbeitenden ihre Macht ausleben, oder wenn sie nicht völlig dem dogmatischen Denken verfallen sind, könnten sie lernen dogmatisches Denken zu verachten. Dann könnten sie wissen das mit Dogmen der künftige Mensch, und sein Aufbau der freiheitlichen Gesellschaft verhindert werde. Wenn die sozialdemokratische Führerschaft ihre Weltanschauung als „Herrschsucht und Verführungskunst“ kennen würde, könnten sie ihn, den „Todesprediger“, verstehen. Aber diese Arbeiterführer, und die Arbeitermassen verharren in materialistischer Dogmatik. „Ihre ganze Seele werde gezogen von dem etwas außerhalb“ ihres Lebens. Mit ihren Dogmen, den leeren Begriffsabstraktionen, verkennen sie die Einsicht, das der Mensch das liebt, was er erstrebt. Die Allgemeinheit liebt aber das verkehrte egoistische Wissen, und nicht ihren ganzheitlichen Strebenszustand. Der menschliche Verstand, mit dem auch die Dogmen vorhanden sind, ist nur ein Teil menschlichen Daseins. Wird der Verstand vom Gefühlten und Gewollten isoliert, kann das gesamte Streben des Bewußtseins nicht berücksichtigt werden. Nicht der Glaube, und auch nicht dogmatisches Wissen, sondern allein dasjenige was ein Mensch mit ganzem Bewußtsein erstrebt, ist ihm sein wahres, liebstes, richtiges.
Karl verlangt keinen Weltanschauungskampf, keine Religion, keine Lehre, sondern die Einsicht das mit den Dogmen der Mensch sich selber um sein ganzheitliches Welterleben bringt. Nicht mit einem Glauben oder einer Theorie will er überzeugen. Die Arbeitermassen, und ihre Führer bemitleidet er, ohne sie zu verachten, sie wissen es nicht besser. Ihnen ist die sozialdemokratische Partei der Weg zur Freiheit, sie haben einen langen, schmerzvollen Weg vor sich. Der Tag, an dem sie begreifen, das ihnen das heute wichtigste - ihre auf Dogmen gebaute Weltanschauung - das unwichtigste wird, ist nicht in Sicht. Nur ganz wenige Menschen kenne er, die sich von dogmatischer Bevormundung befreien konnten. Der Weg über die Sozialdemokratie sei einer von mehreren, um sich befreien zu können! Wer an die Dogmen, und den Parlamentarismus der Sozialdemokratie glaubte, und diesen Glauben als ein Hindernis der zu verwirklichenden Freiheit kennt, ist von der Sozialdemokratie befreit! Diese wenigen nannten sich nicht mehr Sozialisten, sondern sie „nannten sich wieder (!) Idealisten und Anarchisten“. Diese wenigen, die den aberglaubensfreien Menschen, und die freie Gesellschaft wollen, und nicht mehr die bürgerliche Ordnung, stehen als einzelne, ohne Partei, ohne Religion, ohne bürgerliches Interesse in der Welt. „Ja, diese Menschen gehören zu meinen Zuhörern und sie stehen in der vordersten Reihe und ihre Herzen liegen offen da, und sie harren des Wortes das ich sprechen soll... Ich segne euch, meine Brüder, unsere Wege kommen aus verschiedenen Geburten, aber nun haben sie sich gefunden und bleiben zusammen“.
Gustav Landauer zeigt die dogmatische Denkweise der Sozialdemokratie. Aus wenigen Beobachtungen wurden vor einigen Jahrzehnten „ein paar armselige Schlüsse“ gezogen, und darauf wurde ein ewiger materialistischer Glaube aufgebaut. Mit dieser Grundlage soll die materialistische Basis der sozialdemokratischen Weltanschauung vorhanden sein! Diese Grundlage ist aber eine willkürliche. Sie ist eigentlich nur mit einigen wenigen Begriffen vorhanden, die unmöglich das ganzheitliche Leben - das den Verstand als Ausdruck des leidenschaftlichen Befreiungswillens kennt - darstellen kann. Und mit dieser leeren Begrifflichkeit wollen Sozialdemokraten die Gegenwart und Zukunft, lebendig gestalten! Viele Menschen sind bereits ohne sozialdemokratischen Dogmatismus, ohne Parlamentarismus in die Freiheit gekommen. „Zu diesen Menschen, die wie Götter schreiten auf der Höhe hinweg über die Rücken arbeitender Lohnsklaven, gehören unsere erlesensten Denker und Dichter und doch, was halten diese schliesslich vom Leben? Meinte nicht Goethe,... wenn er alles zusammennehme wahrhaftig glücklich sei er nur ein paar Stunden gewesen... und dieser Mann gehörte zu den glücklichsten Menschen, die je gelebt haben“. Die Annahme, das erst die Sozialdemokratie die Voraussetzung geglückten Lebens geschaffen habe, ist eine dumme und hochmütige. Der Mensch wird nicht glücklicher, wenn er in verbesserten ökonomischen Verhältnissen lebt. Der Grund liegt gar nicht in den ökonomischen Bedingungen, sondern darin, das der „Mensch ein denkendes Tier ist, das er den Begriff des Zweckes kennt“. Was bedeutet das? Ohne Zweckdenken kann kein Mensch leben, und doch ist jeder Mensch mehr als sein egoistischer Verstand. Das der Mensch dieses aber so selten lebt, liegt daran das er mit dem Zweckdenken seine Weltgestaltung auf Kosten seiner Affekte lebt. Und dieses einseitige Denken kennt er nur selten als sein verkehrtes Denken. Verkehrtes Zweckdenken wird nicht als dogmatisches gewußt, mit dem ganzheitliches Denken verhindert wird. Der Mensch ist immer mehr als sein Verstand, „müßte der Mensch ewig leben und ewig fragen, wozu - o der Gedanke ist nicht aus zudenken, laßt mich schweigen und mich freuen, das es nicht so ist. Ja, eines gibt es, dessen freue sich der Mensch und dem jauchze er zu, dem singe und juble und tanze er entgegen... und er wage es jetzt gleich zu stürzen in diesen herrlichen strahlenden Abgrund des Glückes: das ist der Tod“.
Die Erfahrung des Glücks ereignet sich, wenn der Mensch vom verkehrten Zweckdenken sich befreien konnte. Das ganzheitliche Welterleben, nicht einseitige Verstandesdogmatik müßte Welt gestalten. Ganzheitliche Erfahrung ist nur möglich, wenn verkehrt gedachtes als totes Wissen gewußt wird, das ganzheitlichem Welterleben entgegensteht. Dem ganzheitlichen Dasein, das die Welt naturwissenschaftlich und künstlerisch gestalten könnte, gilt die Predigt. Die Predigt Starkbloms steht im Namen ganzheitlichen Lebens, das dieses Realität werde, nicht mehr das verkehrte als vernünftiges genommen werde, und der zukünftige Mensch die freie Gesellschaft aufbauen wird. Die Vielen meinen anderes zu wissen. Zunächst müßten veränderte ökonomische Bedingungen mit der Sozialdemokratie geschaffen werden, dann erst könne sich der Mensch geistig entfalten. Landauer läßt den „Todesprediger“ sagen: „Seht doch... ich will Gefährten und darum predige ich den Tod, weil das meinen Leben noch Reiz verleiht bis zum Ende... ich werde sterben. Und das ist die einzige Zukunft, ja die soll zusammenfallen mit meinen Willen“. Da Landauer, wegen der gegenwärtigen Weltverständnisse eine lebendige Zukunft nicht kennen kann, bleibt er äußerst realistisch, wenn er sagt, das in der Zukunft nur der Tod gewiß ist. Den „Idealisten und Anarchisten“, denen die Dogmen der Religion und der Sozialdemokratie als der zu verwirklichenden Freiheit entgegenstehendes bekannt wurden, predigt er den Tod. Im dritten Kapitel kennt Landauer/Starkblom keine Alternative zum bestehenden Aberglauben. Diese Alternative zeigt Gustav Landauer im letzten Kapitel des Romans. Dort wird mit der „Utopie“ die Befreiung vom gegenwärtigen Aberglauben angezeigt. Hier, im dritten Kapitel, fehlt die „Utopie“ der Befreiung. Deswegen wird hier der körperliche Tod als Ausweg einer Gegenwart gepredigt, die keine Alternative zur dogmatischen Glaubens - und Denkweise kennt. Den Arbeitern, und dessen Führern sagt er: „machet euch frei“. Diese könnten vom verkehrten Denken befreit leben. Dann könnten auch sie, mit den „Idealisten und Anarchisten“ wissen: Das verkehrte Zweckdenken, mit dem ganzheitliches Welterleben verhindert wird, ist die eine Säule der Sozialdemokratie. Der andere tragende Pfeiler der Sozialdemokratie ist ihr Parlamentarismus. Beide Stützen müßten als verkehrte Bedingungen der Freiheit überwunden werden. Den Bürgerlichen sagt Karl: „Ich harre nun eures Echos und dann will ich wieder reden“. Den Sozialismus - den der „Idealisten und Anarchisten“ - wünscht er „ein langes Leben, ein schönes Greisenalter und den Tod auf der Matratze“. Im dritten Kapitel ist klar geworden, das sich Gustav Landauer mit der Sozialdemokratie auseinandersetzte. Hier legte er literarisch seinen politischen Standort dar. Damit ist seine frühe Stellung zum Sozialismus literarisch beschrieben.
Der vierte Romanabschnitt zeigt das „zweite Sendschreiben an das Menschengeschlecht“ in der „Vision des Todespredigers.“ Diese Vision ist die Antwort auf die Reaktion des ersten Sendschreibens. „Ich lebe nicht zu meiner Zeit. Ich habe geglaubt, ich könnte verstanden werden und man hat meine Schrift als ein literarisches Ereignis aufgefaßt. Lächerlichkeit über Lächerlichkeit“. Das erste Sendschreiben, das Karls Resultat mit seiner Auseinandersetzung der Sozialdemokratie ist - vom Standpunkt des entwurzelten Bürgerlichen, dem die Sozialdemokratie als Aufhebung seines bürgerlichen Pessimismus dienen sollte! - wurde nicht als politisches Manifest der Befreiung begriffen! Das dieses Sendschreiben eine Kampfansage gegen dogmatisches Denken ist, wurde nicht verstanden. Das seine Revolutionsliteratur nicht als politisches Manifest verstanden wurde machte Karl noch einsamer. „Ich bin traurig, sehr traurig, das ich einsam bin, im Tode wie im Leben... o merkt ihr denn nicht, seht ihr das Leid denn nicht, das an mir zieht? ICH SUCHE MENSCHEN! Menschen suchte ich immer und immer, erst blickte ich um nach Tausenden und wiederum Tausenden um zu ihnen zusprechen und sie zu erkennen als meinesgleichen und sie zu verführen zu meinen Tode. Und jetzt suche ich einen einzigen Menschen. EINEN Menschen nur der mich liebt und mit mir sterben will“. Die Gegenwart, solange sie in verkehrten Glaubens- und Denkweisen verharrt, kann sein politisches Manifest nicht begreifen. Wollen die heute Lebenden nicht den freien, revolutionären Menschen verdienen sie auch nicht die Predigt Karl Starkbloms. Deswegen will der „Todesprediger“ seinen, und den Tod der anderen. Hier sehen wir den bürgerlich entwurzelten Starkblomschen Pessimismus auf die Spitze getrieben. Auch die Erde hat den in verkehrten Weltverständnissen beharrenden Menschen nicht verdient! Wenn nicht sozialistisch wissenschaftlich - künstlerisches Weltgestalten zur Macht kommen kann, soll auch nicht jüdisch - christliche Moral, metaphysisches Denken Spinozas, das Entwicklungsdenken Hegels, die bürgerliche Ordnung, die Kunstästhetik, die Sozialdemokratie in Geltung stehen!
In der Vision des „Todespredigers“ bringen die Menschen sich selber ums Leben. Starkblom, und seine letzten Getreuen „zogen an den sonnigen Rhein... was die Erde wohl ohne uns anfangen mag? ... Wir waren doch sicher ihre größte Unterhaltung. Ich hoffe sie langweilt sich ohne uns zu Tode und stürzt in die Sonne. Vielleicht bringt das dann Unordnung in die Welt, das alles durcheinander kommt und alles wieder eins wird und nichts mehr gesondert ist. Denn wisset, das will ich euch noch sagen: eines und nichts - das ist dasselbe. Die Besonderung und die Verschiedenheit erst hat die Welt und das Leben und das Bewußtsein erzeugt. Ist die Welt erst eins, dann ist nichts mehr, dann ist das Nichts da, das Absolute Nichts... Und dann stürzten sie sich in die Fluten –allesamt... und menschlos war die Erde weit und breit... und die Erde brauste klingend ihre Bahn dahin: er war tot, er war tot! Der große Peiniger!“ Diese „Version“ ist nicht Landauers endgültige Antwort. Sie ist die „Vision“ des bürgerlich entwurzelten Pessimisten, dem kein Sinn in seinem Leben aufging, und nun meint, das er alle Menschen von dieser ekelerregenden Gegenwart erlösen müsse - mit Selbsttötung. Das diese „Vision“ keine letztgültige ist, zeigt Landauer mit den Worten „Ich aber bin Starkblom, nicht Starkblom der „Todesprediger“ und nicht Starkblom der Epileptiker - bloß Starkblom der Erste, Starkblom der Leidende und Starkblom der sterbende“. Dieser Karl Starkblom ist nicht mehr der bürgerlich entwurzelte, sondern Starkblom, der mit den „Idealisten und Anarchisten“ - inmitten der Wüste verkehrten Lebens - utopische Freiheit verwirklichen will.
Der fünfte Abschnitt zeigt eine veränderte Perspektive. Anfangs wird nicht mehr von Starkblom und seinem Leid, sowie seiner Sehnsucht berichtet, sondern von seinem Bruder Hans, der mit seiner Freundin Marguerite in Paris weilt. Hans versteht sich als bombenwerfender Anarchist, mit seiner Freundin beschließt er seinen Bruder zu besuchen. Die Sendschreiben fielen ihnen in die Hände, sie wollten Karl wieder ins Leben zurückführen, und das die drei Freunde werden. Aber es kommt anders, Marguerite und Karl verlieben sich. Als Hans mit dieser Situation konfrontiert wird, verhält er sich wie ein bomberwerfender Anarchist. In Lagen, in denen Karl nicht weiter weiß, wird er aggressiv, auch verbal. Karl muß reden: „Einen Moment war ich vielleicht auch da, aber ich kann nicht. Und jetzt schon gar nicht mehr. Ich kann nicht bloß verneinen. Ich muß etwas haben wofür ich mich erwärme“. Landauer läßt Karl fragen: „Ist das die Stimmung der Anarchisten?“ Hans antwortet: „Nun, sie sind nicht ganz ohne,... Hitzige und unklare Menschen. Ich habe die Verteidigungsrede des einen bei mir“ Karl und Marguerite wollen die Rede hören. Quintessenz der Rede: die anarchistischen Gewalttaten seien eine notwendige Folge der bürgerlichen Einrichtungen. Karl begreift, das Menschen wie sein Bruder nicht so Denken müssen. Sind die gesellschaftlichen Einrichtungen vom utopischen Geist eingerichtet, sind auch keine Situation mehr vorhanden, in denen Menschen mit Attentaten versuchen ihr Recht durch zusetzen. „Marguerite, rasch, rief Karl plötzlich. Papier, Tinte, Rasch. Ich könnte es vergessen“. Und Karl schrieb: „Utopien, das wäre vielleicht eine Aufgabe, der ich gewachsen wäre. Utopien zuschreiben. Ausbau von allen, wozu jetzt die Ansätze da sind; Psychologie, Technik, Kunst, Stadt und Land, Verkehr, Gesellschaft, Familien, Natur. Kurz, alles sagen. Das gefällt mir, meinte Marguerite. Das kannst du.“ Hans wird klar das die beiden sich gefunden. „Ihr seid glücklich, meine Herrschaften, sagte Hans plötzlich... ich gehe jetzt. Adieu Bruder - viel Glück - nein, ich meins wirklich ernsthaft... Hans gab Marguerite die Hand und wies ihre Umarmung zurück“. Das Karl Starkblom nun einen Menschen fand, welchen er lieben kann, gibt ihm den Mut „wieder zu den Menschen zu sprechen“. Seiner Marguerite gesteht er „Nein, nein das Bild wird ich nicht los, das ich als Knabe vor dem einschlafen schon immer sah: Ein mächtig zusammengedrängter Volkskörper der nach vorwärts schießt, und ich mittendrin, und doch über ihn als Redner und Sänger und Prophet und Führer. Ach was ist das für eine jämmerliche Krämerzeit, in der wir hinein gefallen sind, wir wissen wahrhaftig nicht warum. Auch jetzt, wenn ich schreibe, wie ich reden und singen und jubilieren möchte - aber auch jetzt - ich wende mich immer an Menschen, die ich nicht sehe, ich ahne, zerstreut in der Welt, hier und da, müßten sie sein, die mich hören - aber ich kenne sie nicht, ich habe sie nie gesehen. Was ich sehe von den Menschen und ihren Einrichtungen und ihren Gebahren - das glaubt kein Mensch, wie mich das anekelt... Jetzt ahnst du vielleicht, Marguerite, was du mir bist. Seit ich lebe, der erste Mensch, vor dem mir nie geekelt hat... Ich möchte einen Kreis von Menschen um mich haben... in deren Umgebung sich meine Lippen nicht bös im Ekel verzerren müssen - ist das zuviel verlangt, Marguerite? Sie drückte seine Hand stärker. Vielleicht finden wir sie, Karl. Einen nach den anderen.“ Dieser Abschnitt zeigt das Karl nun das fand, was ihm von seinen selbstzerstörenden bürgerlichen Pessimismus befreite: Einen Menschen vor dem ihn nicht ekelt, den er also liebt. Das bewahrt ihn vor seiner Selbsttötung. Jetzt faßt er Mut, um etwas aufzubauen, wovon er überzeugt ist: Utopien zu schreiben. Aus einen Brief vom 26.6.1892, den Gustav Landauer an seinen Freund Fritz Mauthner schrieb, geht hervor, das er in Urach das zweite Kapitel umarbeitete, und den dritten bis fünften Abschnitt schrieb. Der sechste Abschnitt ist demzufolge nach Juli 1893 geschrieben, also nach seinem Aufenthalt in Urach. Im sechsten Abschnitt "Utopien" verarbeitete Gustav Landauer die Erfahrungen, die er in seiner aktiv politischen Zeit, bis ca. Sommer 1893, machte.
Der sechste Abschnitt ist mit „Utopien“ betitelt, und ist Karls „Frau und dem kommenden Kind gewidmet“. Starkblom, vom Bürgertum entfremdet, an den gegenwärtigen Verhältnissen leidend, versuchte mit der Sozialdemokratie seinen Leidenszustand zu beenden. Er scheiterte, rechnete mit der sozialdemokratischen Partei ab, und fand in seiner Frau Marguerite endlich das Leben das er liebt. Endlich widerfuhr ihm etwas was ihm Mut gibt die Gegenwart und die Zukunft als offenen Horizont zu erfahren. Dieses stärkt sein Selbstbewußtsein. „Der Todesprediger“ ist zum Menschen gewandelt, der das gegenwärtig Verkehrte, dogmatische Denken und Handeln, gelassen betrachten konnte. Karls Wandlung zum Leben ermögliche ihm utopisches Denken kennen zu lernen. Diese Verwandlung ist der endgültige Abschied vom bürgerlichen Pessimismus, und die Hinwendung zur offenen Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung, die im Zeichen des Kulturoptimismus stand. Den bürgerlichen, die bereits die materialistische Freiheit leben - ohne aber die geistige Freiheit zu kennen, welche die geknechteten mit einschließt - sagt er nun: „ihr Saftlosen Lauwarmen, ihr wißt ja nichts von der Kälte der Todesnähe und von der siedenen Glut des neu schießenden Lebens. Geht weit weg. Geht mir weg. Bleibt hinten, denn ich will vorwärts blicken und heiter jauchzen und lachen... Ein wesenloser Gestank - das seid ihr mir.“ Hier meint Landauer die skeptisch, und die christlich bürgerlichen. Die skeptisch - bürgerlichen rechtfertigen ihre Ordnung als unveränderbar, und zwar mit materialistischen Gründen, wogegen die christlich - bürgerlichen die ekelerregende Gegenwart als Gottgewollt rechtfertigen. Diese Bürgerlichen sind, weil sie in dogmatischer Glaubens - und Denkweise verharren, nicht für „Utopien“ zu gewinnen. „Warum lebt ihr? Warum stirbt ihr nicht? Ihr glaubt nicht an das Reich der Schönheit und der Freiheit aller Geborenen, ihr fühlt euch nicht eins mit dem Streben der Knechte... Ich glaube an das Ziel und an die Schönheit und der Freiheit aller Geborenen, ich fühle mich eins mit den Knechten und fühle mich eins mit dem All!“ An das Ziel glauben - das die materialistisch - geistige Freiheit möglich sei - und nicht an den Widersprüchen des verkehrten Lebens zu verzweifeln, ist Karl nun wichtig geworden. Das Leben ist ihm lebenswert, wenn er rastlos daran arbeiten kann die Widersprüche, das verkehrte Denken und Handeln der Vielen, zu entlarven. „O, wenn ihr diese Widersprüche und ihre Notwendigkeit nicht versteht, dann gehet weg von mir und weg aus dieser Zeit und aus diesen Leben“.
Gustav Landauer wußte die Versuche, die Vielfältigkeit des Welterlebens und Gestaltens „in eine Formel zu pressen“, als verkehrte Lebensweise. Das verkehrte Welterleben zeigte sich ihm mit den Dogmen der Religion, der Philosophie, der bürgerlichen und sozialdemokratischen Weltanschauung. Das ganzheitliche Welterleben wird mit Dogmen auf formal, erstarrte Begrifflichkeit reduziert. Hier herrscht das einseitige Zweckdenken, das die anderen Triebkräfte, die des Fühlens und Wollens, vergewaltigt. „Jetzt aber predige ich das Leben. Leben für heut und für alle Ewigkeit. Solange ich lebe, fühle ich mich eins mit allen was lebt... Ich genieße meine Nächsten und genieße mein ahnen des entferntesten... das Treiben der Menschen, der Technik und die Produktion der Bedürfnisse... die Wissenschaft und die Kunst... jetzt ist mir alles wieder interessant... Frei und unbekümmert nehme ich Stellung zu allen, was sich mir naht, und ich lege mein Bekenntnis ab über alles, was mir bekannt wird. Und das ist es, was ich von euch verlange, ihr Führer und Völker: IHR SOLLT BEKENNEN. Ihr sollt nüchterne sein!“ Die „Träumer und die Dichter und Künstler und ihr Männer der Wissenschaft“, ihr müßt die Mannigfaltigkeit des Welterlebens darstellen, ohne Dogmen, ohne erstarrte Begrifflichkeit. Die Dichter, Künstler und Wissenschaftler kennen dogmatisches Denken als Verhinderung ganzheitlicher Welterfahrung. Die Wissenschaften, mit ihren Resultaten der „Dampfmaschinen, Dampfschiffe und Eisenbahnen, Elektrizität und rationale Landwirtschaft“ sind bereits fortgeschritten. Aber: „welcher Umschwung in der GEISTIGEN KULTUR entspricht dieser riesenhaften Veränderung im Verkehr und in der Herstellung der Bedürfnisse des Lebens und des Genusses? Und welche sollte ihr entsprechen? Und welche wird ihr entsprechen?“ Gustav Landauer wußte bereits: Wird der wissenschaftlichen Entwicklung, und deren Anwendung in der Gesellschaft bürgerlich entsprochen, bleibt geistige Freiheit nur einigen Künstlern und Wissenschaftlern vorbehalten. Er weiß aber auch: Wird der wissenschaftlichen Entwicklung sozial entsprochen, kann materialistisch - geistiges Weltgestalten allen Menschen zu kommen. Wissenschaft, und Kunst müßten den gegenwärtigen Menschen von seinem verkehrten Denken und Handeln befreien. Der Mensch müßte sich und die Welt nicht mehr dogmatisch vereinnahmen, sondern ganzheitlich, eben sozialwissenschaftlich - künstlerisch gestalten. Und dieses ist möglich! Trotz aller Widersprüche! Trotz Dogmen! Ganzheitliches Denken und Handeln ist möglich, weil: „sie noch nicht tot ist, die Göttin der Vernunft, sondern erst beginnt sich zu Dehnen und auf sich selbst zu besinnen“, z. b. nicht allmähliche Entwicklung, wie das dogmatische Denken postuliert, sondern die jederzeit mögliche vernünftige Besinnung bringt die ganzheitliche Weltgestaltung zur Wirklichkeit. Mathematische Wissenschaft, und lebendige Kunst sind nur dann in Gegenwart und Zukunft gestaltende Kräfte, wenn sie aus dem ganzheitlichen Welterleben geschöpft sind, und nicht aus einseitigem Zweckdenken.
„Meine Freunde, ich habe euch in dieses harte Eisland geführt, um euch eine Grenze zu zeigen. Hier ist die Grenze des Begriffs und des Wortes und der Logik. Wer bis dahin gekommen ist mit seinen Denken, der muß sich entscheiden: will er ein kalter sein oder ein warmer?“ Wird die Welt mit Dogmen auf tote Begrifflichkeit reduziert, ist ganzheitliches Denken und Handeln, ist schöpferische Gestaltung der Welt, nicht mehr möglich. Mit dogmatischer Denkweise ist der Mensch ein kalter geworden. Wird menschliches Zweckdenken nicht vom Fühlen, vom Willen isoliert postuliert, wird also die Welt mit ganzheitlichem Wissen und Handeln gestaltet, kann der Mensch sich, und die Welt nach dem utopischen Ideal, dem „Übermenschen“, verwandeln. Gustav Landauer setzte hier auf eine Wahlmöglichkeit des Menschen. Er fordert: „Ihr seid auf den falschen Weg zu weit vorgegangen; wollt ihr den rechten Punkt finden, so müßt ihr wieder zurück... Und das heißt mir soviel ihr sollt keine einzigen sein, ihr sollt euch gesellen, ihr sollt lebendig leben und den Tod den Tod überlassen.“ Die Wissenschaftler und Künstler müßten mit ihren jeweiligen Möglichkeiten die Widersprüche der Welt, die auch die Widersprüche des Menschen sind, und die mit dem dogmatischen Glauben und Denken entstanden sind, überwinden. Die Wissenschaftler und Künstler, als Repräsentanten schöpferischer Denkweise, müßten darstellen was jenseits der widersprüchlichen Welt vorhanden ist. Jenseits der verkehrten Weltverständnisse befinde sich die ganzheitlich wissenschaftlich - künstlerische Mannigfaltigkeit der Welt. Seiendes bedarf des ganzheitlichen Seins. Dieses verstehen die Arbeiter und ihre Führer nicht. Ihre Wahrheiten, des Klassenkampfes z. b. und der selbsteigenen, objektiven Weltentwicklung sollen keine Wahrheiten sein? Niemals! Das geht über ihr Verständnis, seien sie nun marxistisch geschult oder nicht. „Heute aber wende ich mich an ganz andere Menschen; heute rede ich zu der zweifelhaftesten und bedenklichsten Menschensorte, zu den Träumern und Denkern aus der Bürgerlichen Welt. Es ist nicht der Vortrab des Bürgertums, es sind nur Vereinzelte, die sich seitwärts schlagen, dahin und dorthin, und die alle gemeinsames haben. Ich möchte sie sammeln im Felde der Zukunft; im Lager des Proletariats; die höchste, fast schon überdrüssige Kultur möchte ich vermählen der jungen Kraft des vorwärts stürmenden Aufschwunges... Zugleich bin ich bei den Zigeunern des Bürgertums, die ich aufmuntern will meinen Weg zu betreten und zugleich bin ich beim jungen Proletariat, dem ich die Freiheit bringen will, jetzt nicht die ökonomische, die es selbst erringen wird, nein, die Freiheit des einzelnen, der kühn und unbesorgt allen entgegen blickt“. Landauers Kulturoptimismus ist nicht mit der marxistischen Sozialdemokratie, und auch nicht mit bürgerlichen Interessen zu verwirklichen. „Utopien“ können nur Menschen wichtig werden, welche die verkehrten Weltverständnisse als der „Utopie“ entgegenstehendes kennen. Diese Einsicht ist nicht von einer Klassenangehörigkeit abhängig, entscheidend ist allein der Befreiungswille von der ekelerregend empfundenen Gegenwart, und der Wille für soziale Verhältnisse zu kämpfen. Die „Utopie“ kann jeden Menschen wichtig werden. Landauer/Starkblom möchte die „Idealisten und Anarchisten“ in einer Gemeinschaft, die über den Klassengegensätzen steht, sammeln. Das Motto dieser Gemeinschaft sei die Verwirklichung ganzheitlichen Weltgestaltens. Diese Gemeinschaft müßte sich aus entwurzelten bürgerlichen, denen die „soziale Frage“ wichtig ist, und aus entwurzelten Arbeitern, denen die Dogmen der Sozialdemokratie zuwider sind, zusammensetzen. Hier könnten geistige Waffen geschmiedet werden, diese müßten dem Bürgerlichen ebenso wichtig sein, wie dem Proletariat. Die Arbeiter benötigten die wissenschaftlich - künstlerische, kulturoptimistische Perspektive. Damit könnten sie den ökonomischen Befreiungskampf selbstbewußt führen. „Ich schwanke nicht von einen zum andern, in mir sind die Gegensätze vereint, und widerspruchsvoll ist nur das Wort und nicht das Leben. Mein Leben ist jung und reich, folge mir nach, wer kann!“
Die Verwirklichung des Kulturoptimismus stand im Zeichen der Politik. Im Frühjahr 1892 ist Gustav Landauer vom politischen Weg der Verwirklichung überzeugt. Wir sahen den jungen Landauer mutig seinen Weg gehen. Seine frühe Entwicklung läßt sich mit den frühen Aufsätzen, und dem Revolutionsroman belegen. Der Aufsatz „Die Religiöse Erziehung“, und die frühen Artikel zur Kunst zeigen seinen wissenschaftlich - künstlerischen Kulturoptimismus. Das Kapitel eins bis fünf des „Todespredigers“ zeigen Gustav Landauers politischen Pessimismus. Im sechsten Teil wird der politische Ausweg aufgewiesen. Mit den frühen Aufsätzen, und dem Roman zeigt Gustav Landauer seinen wissenschaftlich - künstlerischen Kulturoptimismus literarisch. Dieser literarische Kulturoptimismus soll aber in der Welt realisiert werden. Die Verwirklichung des sozialen Kulturoptimismus wurde Landauer wichtig. Die Realisierung erhofft Landauer innerhalb des politischen Raumes. Nicht mit der bürgerlichen, und auch nicht mit der sozialdemokratischen Politik, sondern mit der revolutionären Arbeiterschaft. In dieser Frühphase sind bereits viele Gedanken angedeutet, die Landauer ab August 1892, mit den Aufsätzen im „Sozialist“, konkretisierte. Die Zeitschrift der „Unabhängigen“ baut er dann in seinem Sinne aus. Der bürgerlich entwurzelte Utopist Gustav Landauer (nicht der bürgerliche Pessimist!) zeigt im „Sozialist“ der im dogmatischen Denken und Handeln beharrenden Arbeiterschaft seine Sache. Landauer möchte den Geknechteten die geistigen Grundlagen ihres ökonomischen Freiheitskampfes aufzeigen. Mit dieser Sache ist Gustav Landauer nicht mehr im unproduktiven politischen Pessimismus befangen. Seine Sache ist die Verwirklichung des sozialen Kulturoptimismus, der „Utopie“, geworden. Damit verabschiedete er sich von seinen bürgerlich selbstmörderischen Leidenszustand.
Mit der politischen Verwirklichung seines Kulturoptimismus steht Gustav Landauer aber zwischen den Mächten, welche seine Gegenwart gestalteten. Für Landauer sind die Vorraussetzungen der Sozialdemokratie - ihr dogmatisches Denken, ihr Parlamentarismus - widersinnig. Die beiden Säulen der Sozialdemokratischen Partei stehen der politischen Verwirklichung wissenschaftlich - künstlerischer Weltgestaltung entgegen. Damit ist klar, das Gustav Landauer nicht in den Reihen der Sozialdemokratie steht. Aber auch auf der Seite des Bürgertums steht er nicht. Deren Verteidigungen, und Rechtfertigungen der bestehenden Verhältnisse ekeln ihn an. Das bürgerliche Interesse steht seiner wissenschaftlich - literarischen „Utopie“, die er nun politisch realisieren möchte, völlig entgegen. Deswegen kann Landauers wissenschaftlich - künstlerisches Verständnis weder das Sozialdemokratische, noch ein Bürgerliches sein. Die „Utopie“, die Verwirklichung ganzheitlichen Welterlebens, ist immer das Noch - Nicht in der bestehenden bürgerlich - demokratischen Ordnung.
Soziale Wissenschaft, und soziale Kunst sind keine Sache eines beschränkten Klassenverständnisses; sie sind Mittel der Befreiung von dogmatischen Denken/Glaubens und Handelns. Die Verwirklichung wissenschaftlich - künstlerischen Weltgestaltens, mit Hilfe undogmatischen Welterlebens, ist Gustav Landauers utopisches Projekt. Das verkehrte Denken und der verkehrte Glaube, sowie dessen Moral soll überwunden werden. Jüdisch - Christliche Weltanschauung, das metaphysische Denken Spinozas, das Entwicklungsdenken Hegels, der Pessimismus Schopenhauers, der ästhetische Kunstbetrieb, die dogmatische Sozialdemokratie, der bürgerliche Staat soll überwunden werden. An Stelle mannigfaltigen Aberglaubens könnte der „Übermensch“ und die soziale Ordnung stehen. Nicht Nietzsches antikes Menschenverständnis, sondern seine leidenschaftliche Kulturkritik wurde Gustav Landauer wichtig. Die utopische Freiheit soll leben. Der soziale Kulturoptimismus müßte in der, vom verkehrten Denken und Handeln beherrschten Wüste des deutschen Kaiserreiches, politisch verwirklicht werden. Landauer gestaltete den Kulturoptimismus ab August 1892 nicht mehr literarisch, sondern mit der Zeitschrift „Der Sozialist“, politisch. Er setzte auf den revolutionären Teil der Arbeiterschaft, den „Unabhängigen Sozialisten“. Nicht ein Parteiprogramm wird Landauer verwirklichen helfen, sondern er kämpfte für die Befreiung vom dogmatischen Denken. Mit dieser Befreiung könne die ekelerregende Gegenwart, im Lichte der „socialen Frage“, leidenschaftlich verwandelt werden.